BEETHOVEN 33 Veränderung über einen Walzer von Anton Diabelli, Op 120 |
Im Jahre 1819 verteilte der Musikverleger Anton Diabelli einen von ihm selbst komponierten Walzer an fünfzig Komponisten, von denen jeder gebeten wurde, eine Variation zu einem gemeinsamen Projekt beizusteuern. Beethoven verschmähte das Thema aufgrund seiner mechanischen Sequenzen erst als ‘Schusterfleck’, aber reagierte dann auf Diabellis Einladung auf übertriebene Art, indem er ursprünglich nicht nur eine, sondern dreiundzwanzig Variationen erdachte, zehn weniger als die endgültige Anzahl. Eine kürzlich vorgenommene Untersuchung von Beethovens Musikmanuskripten des Jahres 1819 gab mehr Aufschluβ über die Struktur und Bedeutung dieses groβen Werkes, das sein längstes Klavierstück ist und als eine seiner geistig anspruchsvollsten Klavierkompositionen gelten kann. Nachdem er die Arbeit daran einige Jahre lang beiseite gelegt hatte, erweiterte er 1823 den Entwurf, fügte die Variationen 1, 2, 15, 23-26, 28, 29 und 31 in die bestehende Reihenfolge ein und baute den Schluβteil sehr beträchtlich aus. Während des Kompositionsprozesses milderte odor tilgte Beethoven die auffälligsten Ähnlichkeiten zwischen den Variationen in seinen Entwürfen, und verlieh zugleich jeder vollendeten Variation einen klar abgegrenzten individuellen Charakter. Der Walzer dient als Reservoir unverwirklichter Möglichkeiten, aus dem die Variationen eine fast enzyklopädische Vielfalt von Zusammenhängen erschaffen. Die psychologische Komplexität der ‘Diabelli’-Variationen hat ihren Ursprung vor allem in dieser Spannung zwischen dem Ausgangspunkt eines gewöhnlichen Themas und dem sich daraus entfaltenden, scheinbar grenzenlosen Horizont der Variationen. Kein anderes Werk Beethovens ist so reich an Anspielungen, Humor und parodistischen Elementen. Triviale oder sich dauernd wiederholende Eigenheiten des Walzers, wie zum Beispiel die von der rechten Hand zehnmal wiederholten C-Dur-Akkorde in den Eröffnungstakten können, wie in Variation 21, gnadenlos übertrieben, oder, wie in Variation 13, in Schweigen aufgelöst werden. Unauffällige Bestandteile des Walzerthemas, wie zum Beispiel die zu Beginn gehörte ornamentale Drehfigur, können erstaunliche Bedeutung erlangen, wie zum Beispiel in den vollkommen auf dieser Wendung basierenden Variationen 9 und 11. Mehrere Variationen spielen auf Mozart, Bach und andere Komponisten an. Am offensichtlichsten unter ihnen ist der Hinweis auf ‘Notte e giorno faticar’ vom Beginn von Mozarts Don Giovanni, der in den Oktaven der Variation 22 zu hören ist. Diese Anspielung ist brillant nicht nur aufgrund der musikalischen Verwandtschaft der beiden Themen – sie teilen zum Beispiel dieselbe absteigende Quarte und Quinte –sondern durch den Bezug auf Mozarts Leporello. Wie Leporellos Beziehung zu seinem Meister ist auch Beethovens Beziehung zu seinem Thema kritisch aber treu, insofern als er die motivischen Komponenten gründlich ausnutzt. Und wie Leporello erlangen die Variationen nach diesem Punkt die Fähigkeit, sich zu tarnen. So ist Variation 23 eine etüdenhafte Parodie pianistischer Virtuosität, die an die Pianoforte-Methode von J B Cramer anknüpft, während Variation 24, die Fughetta, in ihrer zutiefst sublimierten Atmosphäre eine Affinität zu einigen Orgelstücken aus dem dritten Teil der Clavierübung von Bach aufweist. Als ganzes besteht das Werk aus einer groβen Form, die in drei klar voneinander abgegrenzte Bereiche unterteilt ist. Die Variationen zu Beginn halten sich im allgemeinen nahe an die grundlegenden Eigenschaften des Themas (wie z. B. dessen Metrum) und werden dann zunehmend freier. Zuletzt – in Beethovens Gegenüberstellung von zwei kontrastierenden kanonischen Variationen (Nr. 19 und 20) – wird diese Freiheit zur Dissoziation, bis dann in Nr. 21 die strukturellen Bestandteile einer jeden Variationshälfte miteinander kontrastiert werden. In drei der 1823 eingefügten Variationen – Nrn. 1, 15 und 25 – wird ein Eindruck gröβeren formalen Zusammenhalts teilweise durch ungewöhnlich direkten Bezug auf die melodische Form des Originalwalzers in seiner ursprünglichen Tonhöhe erzielt. Variation 1 ist ein eindrucksvoller aber irgendwie gestelzter Marsch, in dem der Baβ zu Beginn die absteigende Quarte aus der Walzenmelodie zitiert und dadurch auffällige Dissonanzen mit der Sopranstimme schafft; Variation 15 (die kürzeste aller dreiunddreiβig Variationen) ist eine Miniatur mit einem merkwürdig statischen harmonischen Aufbau, und ihr kapriziöser Sprung über zwei Oktaven im Baβ der zweiten Hälfte hat verwirrte Herausgeber zur ‘Korrektur’ provoziert. Indem er Diabellis Thema mit dessen intakten melodischen Konturen in diesen Variationen direkt parodierte, machte Beethoven den Walzer selber zur unverzichtbaren Grundlage für die gesamte musikalische Entwicklung. Und wenn die flüchtige, in Variation 15 verkörperte Karikatur das Thema genau in dem Moment, als drastische, verblüffende Konstraste die Oberhand gewonnen haben, wieder als eine Art von Halluzination in Erinnerung ruft, dann wird diese Anspielung auf den Anfang des Werkes in dem dann folgenden Paar von Marschvariationen, den Nrn. 16 und 17, erweitert. Sie stellen Gegenstücke zur Variation 1 dar, bei der der Marsch allerdings noch gestelzter erscheint. In Variation 25 wird der Walzer als humorvoller deutscher Tanz wiedergeboren, aber dieses Bild wird allmählich von der in Nr. 28 gipfelnden Reihe miteinander verbundener Variationen, in denen überall krasse Dissonanzen jeden Taktschwerpunkt dominieren, verdeckt. Diese Variationskette stellt auβerdem den Anfang einer Festigung der Form des gesamten Werkes dar. Ab Variation 28 betreten wir ein verklärtes Reich, in dem Diabellis Walzer und die Welt scheinbar in weiter Ferne liegen. Eine Gruppe von drei langsamen Variationen in Moll erreicht ihren Höhepunkt in Variation 31, einer kunstvollen, an die verzierte Mollvariation in Bachs ‘Goldberg’-Variationsreihe Arie, die gleichzeitig den Stil Chopins vorwegnimmt. Die darauffolgende energische Fuge in Es trägt zu Anfang die Charakterzüge Händelscher Musik; ihr zweiter Teil baut sich zu einem gewaltigen Höhepunkt auf, in dem drei Themen zugleich miteinander verbunden werden, bevor sich die Fuge in einen kraftvollen dissonanten Akkord auflöst. Ein eindrucksvoller Übergang führt nach C-Dur und zur letzten und subtilsten Variation von allen: zu einem Mozartschen Menuett, dessen Ausführung durch rhythmische Mittel in der Koda eine ätherische Beschaffenheit erlangt, die unverkennbar an die vierte Variation Arietta-Satzes aus Beethovens letzter, 1822 komponierter Sonate Op 111 erinnert. Die vielen Parallelen zwischen Op 111 und der letzten Diabelli-Variation sind struktureller Art und erstrecken sich bis zu thematischen Proportionen und dem Gebrauch einer analogen Reihe von rhythmischen Verkleinerungen, die in jedem der beiden Fälle zu einer schwebenden, ätherischen Struktur führen; doch die auffälligste Ähnlichkeit kommt in den abschlieβenden Passagen zum Vorschein, in denen die in beiden Werken so wichtige absteigende Quarte C-G auftritt. Doch hier liegt auch eine letzte Überraschung: der Arietta-Satz, der selber durch das Diabelli-Projekt beeinfluβt worden war, diente Beethoven wiederum als Modell für die letzte der ‘Diabelli’-Variationen. Die das Werk beschlieβende Anspielung wurde somit zu einem selbstzitat, zu einem letzten Orientierungspunkt in einem Kunstwerk, dessen ungeheurer Ausdrucksbereich sich von der ironischen Karikatur bis zur überragenden Transformation des banalen Walzers erstreckt. WILLIAM KINDERMAN ©1994 (Übersetzung ANGELIKA MALBERT) Falls Ihnen diese Aufnahme gefällt, interessieren Sie sich möglicherweise für einen Katalog mit weiteren Aufnahmen der Serien ‘Hyperion’ und ‘Helios’. Bitte schreiben Sie an Hyperion Records Ltd, PO Box 25, London SE9 1AX, England, und wir senden Ihnen gerne unentgeltlich unseren Katalog. 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